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Hierbleiberecht

Über die Herabwürdigung mancher Leben

Ich glaube, dass „hinsichtlich des Kompasses unserer Anliegen und unseres Mitgefühls die Menschheit als ganze kein zu weiter Horizont“ (Kwame Anthony Appiah) ist. Das untere Maß, das wir diesbezüglich anlegen müssen, hat die als Kind aus Litauen geflüchtete US-amerikanische Philosophin Judith Shklar so gesetzt: Grausamkeit ist das Schlimmste was wir einander antun können, das Schlimmste was uns widerfahren kann. „Es gibt nichts, was Grausamkeit und Erniedrigung wettmachen könnte.“

Allein deshalb dürfen wir Fremde also nicht wie Feinde behandeln. Ganz im Gegenteil: wir müssen Teilhabe für alle ermöglichen. Wir müssen Wahl-, Bürger- und Staatsbürgerschaftsrechte ebenso neu fassen wie die Rechtsgrundlagen für Migration, Zuwanderung und Asyl. Doch bis wir all das geschafft haben, wird Zeit vergehen. Viel Zeit vermutlich. Und deshalb braucht es jetzt ein Hierbleiberecht: wir müssen allen Menschen, die seit drei Jahren bei und mit uns leben, eine Perspektive geben. Wir dürfen sie nicht länger im Limbo hängen lassen. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass wir die grundlegende Idee und die vielfältigen Konzeptionen der Gastfreundschaft diskutieren, in der Praxis ausbauen, propagieren müssen – mit der Perspektive, sie womöglich von der Aura der Großzügigkeit, des Gnadenaktes zu befreien und sie als ein jedem zustehendes Recht auf Gastfreundschaft zu institutionalisieren.

Gerade jetzt, in den Zeiten der Pandemie, wird allenthalben über den Wert der Leben im Einzelnen und des Lebens im Allgemeinen philosophiert und geurteilt. Und einmal mehr zeigt sich da, was ohnehin immer zu vermuten ist – die Kluft zwischen Anspruch und Realität ist unfassbar groß. Hier die Theorie derzufolge der Wert des einzelnen (Über-)Lebens heute mit einem weltweiten Shutdown und der daraus resultierenden Weltwirtschaftskrise aufgewogen wird. Und dort die Praxis der Grausamkeit mit der die Leben etwa in Moria und all den anderen Flüchtlingslagern geopfert werden. Müssten nicht eigentlich, fragte der Soziologe Stephan Lessenich in einem Text über die „Coronifizierung des Politischen“ (SZ), „die Menschen in den Flüchtlingslagern an der europäischen Peripherie ganz vorne rangieren auf der sozialpolitischen Prioritätenskala?“ Sein Schluß: „Verwundbar ist, wer zu uns gehört“.

Ganz offenkundig sind eben doch nicht alle Menschenleben gleich viel wert. Während sich in Deutschland viele Dutzend und auch in Österreich zahlreiche Gemeinden und Lokalpolitikerinnen bereit erklärt haben, Menschen und insbesondere unbegleitete Kinder aus diesen Lagern aufzunehmen und zu versorgen, torpedieren staatstragende Parteien und deren Staatsmänner all diese Bemühungen. Und zwar auf Basis eiskalter Kalkulation.

„Jeder Spalt und erst recht jeder Widerspruch zwischen der Wertschätzung des Lebens im Allgemeinen und der Herabwürdigung mancher Leben im Besonderen ist für eine moralische Ökonomie des Lebens in den Gesellschaften der Gegenwart von Bedeutung“, ermahnt uns Didier Fassin über „die Frage der ungleichen Leben nachzudenken“. Zwar mache das Aufdecken der Widersprüche, von denen die moralische Ökonomie des Lebens durchdrungen ist, unsere Gesellschaft noch nicht gerechter; aber immerhin gebe sie denjenigen Waffen an die Hand, die dafür kämpfen wollen, sie gerechter zu machen.

So möge dieses Buch zum Nachdenken anregen, Hinweise zum Weiterlesen anbieten und das eine oder andere Argument liefern, das sich im Kampf für eine gerechtere Welt bewähren könnte. Weil es einfache Lösungen für die großen Probleme der Welt nicht gibt, werden solche hier nicht angeboten – mit dieser einen Ausnahme: …

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